Donnerstag, 15. Dezember 2011

Die Rede des Baumes


Ich bin nun 192 Jahre alt. Ihr Menschen nennt mich und meine  Artgenossen Kastanien. In eurem Zeitmaß bin ich uralt. Im meinem Zeitmaß bin ich im besten Alter. Seit einiger Zeit sind mir wohlgesonnene Menschen sehr nahe. Ich spüre ihre guten Gefühle. Ich  spüre auch ihre Sorge um meinen nahen Tode.

Sie sagen, dass mächtige Menschen meinen Tod verfügt haben. Ich habe Angst vor den Maschinen, die meinen starken Stamm durchtrennen werden und mich von meinen   Lebenswurzeln trennen werden. In all den Jahren meines Lebens habe ich viel erlebt. Freude,Wut und Trauer der Menschen sind mir nicht unbekannt. Viele haben unter meinem Blätterdach gelacht und geweint, Liebende haben sich zärtliche Worte zugeflüstert und mich lauschen lassen. Kinder haben gespielt und meine Früchte gesammelt. All das liebe ich doch so sehr. Und doch soll ich gefällt werden. So viele Jahre habe ich Luft für alle erzeugt. Braucht ihr keine Luft mehr?

Die Menschen, die sich in meiner Nähe aufhalten, sind traurig. Sie wollen mich retten und wissen doch, dass sie es nicht können. Ich  spüre bei einigen Wut und Zorn. Doch ich möchte euch trösten.

Wer wie ich alle Facetten der Menschen kennen lernen durfte, dem ist klar, dass manche Menschen nicht immer so handeln, wie es für ihre Art von Vorteil wäre. Sie handeln wegen ihres vermeintlich eigenen Vorteiles willen. Und da können Bäume wie ich nun mal im Wege sein.

Diese Menschen werden auch nie einsehen, dass sie nicht nur einen Baum fällen, sondern ein Lebewesen ermorden. Noch viel weniger werden diese Menschen jemals verstehen, dass es ohne uns Bäume wohl nie Menschen gegeben hätte. Sowohl wir Bäume als auch die Menschen und die gesamte belebte Natur sind Kinder ein und derselben Evolution. Die guten Menschen, die mich retten wollen, wissen dies. Sie sind sich ihrer Verantwortung für diese Welt bewusst. Ihr Geist wird niemals ruhen und auch niemals besiegt werden können. So  oft auch die anderen siegen mögen, so sicher bin ich, dass am Ende die, die um mich und meine Artgenossen trauern, triumphieren werden.

Die Zeit wird kommen, wo man erkennen wird, dass nicht wir Bäume das Problem waren. Das Problem sind die Menschen, die nicht verstanden haben, dass alle Lebewesen dieser Erde Respekt voreinander zeigen müssen. Nur so können wir alle zusammen diese Erde erhalten.

Mein Tod ist nun wohl beschlossen und kann nicht mehr verhindert werden. All denen, die sich darüber grämen, möchte ich sagen, dass sie nicht wütend oder gar unbedacht werden sollen. Alle die, die bis zu meinem Tode an meiner Seite harren, werden für immer einen Teil von mir in sich behalten. Ich werde immer bei ihnen sein und meine Leidensgenossen eben so. So überlebt zwar nicht meine stolze Gestalt, doch mein Geist wird so in den Herzen der Verstehenden weiterleben. Diese Verstehenden werden es sein, die aus den Trümmern, die die Nichtverstehenden hinterlassen, eine bessere Welt zum Wohle aller Geschöpfe der Evolution errichten.

Seid stolz auf euch, die ihr verstanden habt. Seid gnädig zu denen, die nicht verstanden haben. Mitleid ist es, dessen sie bedürfen.

Kümmert euch um die, die heute nicht verstehen. Auch sie sind Kinder der gleichen Evolution, auch sie sind unsere Brüder und Schwestern. Seid nicht hämisch, wenn eure Zeit gekommen ist. Verzeiht denen, die euch nicht verzeihen wollen. Ihr seid die Zukunft für diese Welt.

Jede Zeit fordert ihre Opfer.  Lasst mein Opfer nicht umsonst sein.

Ich und meine Artgenossen werden immer bei euch sein. Vergesst uns nicht.

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